Im Juni sind wir, wie jedes Jahr, zu dem Dokufilm-Festival „Sunny Side of the Doc“ in La Rochelle gefahren, um dort neue Filmprojekte zu präsentieren.
Diesmal haben wir unterwegs in Chartres Station gemacht, aus nostalgischen Gründen. Wir haben dort nämlich vor vielen Jahren – es war 1995 – einen Film für die ARD-Reihe „Schauplätze der Weltkulturen“ gemacht. Das Thema war die Kathedrale von Chartres und die Gotik.
Wir hatten den Auftrag von einem Redakteur übernommen, der an dem Projekt nicht mehr weiter arbeiten wollte oder konnte. Mein erster Gedanke damals war: eine ganze Stunde nur über eine Kirche – wie soll das gehen?
Und es ging. Sehr gut sogar! (Hier einige Bilder aus unserem Film ›› – leider nicht in der besten Auflösung, aber einen kleinen Eindruck geben sie trotzdem.)
Wir haben Wochen in der Kathedrale zugebracht
Damals waren Recherche- und Drehzeiten beim Fernsehen noch nicht so radikal gekürzt wie heute. Das bedeutete, dass wir Wochen in und um die Kathedrale verbracht haben.
Und ich kann sagen, dass die Arbeit an diesem Projekt zu den eindrucksvollsten Erlebnissen während meiner Zeit als Filmemacherin gehört.
Warum? Ich bin nicht besonders religiös, und doch hat mich der Aufenthalt in dieser Kirche damals tief berührt.
Das mag zum einen daran liegen, dass während der Dreharbeiten mein Bruder schwer erkrankt ist und dann auch starb. Irgendwie habe ich mich in dieser emotional sehr schwierigen Zeit in dem riesigen und doch intimen Raum beschützt und gehalten gefühlt.
Aber das war es nicht allein.
Schon vor diesen traurigen persönlichen Erlebnissen hatte der Aufenthalt an diesem Ort für mich etwas Magisches.
Die Kathedrale von Chartres wurde in ihrer heutigen Form zwischen 1194 und 1260 errichtet – in erstaunlich kurzer Zeit also, nachdem mehrere Vorgängerbauten durch Brände zerstört worden waren. Weithin sichtbar liegt sie auf einem Hügel über der Stadt. Schon in vorchristlicher Zeit soll es an dieser Stelle eine heidnische Kultstätte gegeben haben. Und irgendwie ist tatsächlich eine besondere Ausstrahlung dieses Ortes spürbar.
Die unterschiedlichen Türme machen die Kathedrale unverwechselbar
Auffallend sind die unterschiedlichen Türme: die spätgotische Spitze des Nordturms im „Flamboyant“-Stil wurde erst nach 1500 auf die ursprüngliche Basis aufgesetzt. Die ungleichen Türme machen die Westfassade unverwechselbar und – jedenfalls für mich – besonders reizvoll.
Einen tiefen Eindruck haben auch die gotischen Statuen an den Portalen in mir hinterlassen. Auf den ersten Blick wirken sie vielleicht etwas fremd und steif, doch wenn man genau hinsieht – und dafür hatten wir damals reichlich Zeit – kann man feine Details im Faltenwurf der Gewänder, im Schmuck, ja sogar individuelle Züge in den Gesichtern der Figuren erkennen, wie sie in der Kunst der Gotik eigentlich eher selten zu finden sind.
Im Innern der Kathedrale sind die herrlichen Glasmalereien mit dem berühmten Chartreser Kobaltblau fast alle original erhalten. Mächtige kantonierte Pfeiler tragen das hohe Gewölbe und gliedern das gotische Kirchenschiff in wechselndem Rhythmus.
Das Labyrinth im Boden des Mittelschiffs ist eines der wenigen, die bis heute erhalten sind. Es war und ist ein Anziehungspunkt für die Besucher. Andächtig schreiten sie die Windungen ab, die den Lebensweg des Menschen symbolisieren sollen.
All die Jahre, die seit unserem Filmprojekt vergangen sind, war die Kathedrale von Chartres für mich das eindrucksvollste christliche Bauwerk, das ich bisher gesehen, eigentlich – im wahrsten Sinne des Wortes – erlebt habe.
Nun also wollten wir überprüfen, ob die alte Faszination noch wirkt.
Die restaurierte Kirche wirkt wie ein Schaustück aus Disney-World
Doch leider wurden wir enttäuscht!
Die Kirche ist in den letzten Jahren restauriert ›› worden und sie hat – zumindest für uns – sehr viel von ihrem alten, Ehrfurcht gebietenden Flair verloren:
Die mittelalterliche Patina ist nach den putzwütigen Attacken der Restaurateure verloren gegangen. Der dunkle Innenraum, in dem die wunderbaren Fenster so besonders zur Geltung kamen, ist brutal aufgehellt, die riesigen Pfeiler sind sogar mit einer weißen, kalkartigen Farbschicht übermalt! Angeblich, um den Stein gegen die schwefelhaltigen Ausdünstungen der Touristenmassen zu schützen!
Jahrhunderte hatte das Bauwerk unbeschadet überstanden, in Würde war es gealtert.
Und jetzt wirkt es wie ein Schaustück aus Disney-World, grell, ohne Ausstrahlung, ohne Geheimnis!
Nur die Seitenschiffe sind noch unrenoviert und mit der alten Patina erhalten. Hier sticht der Unterschied zur „neuen“ Kathedrale besonders ins Auge.
Und, als sei die Kirche mit der unsensiblen Restaurierung erst interessant geworden, schieben sich heute die Menschenmassen durch das Bauwerk, stauen sich vor dem Labyrinth, schwatzen, lachen, machen Selfies ….
Die Kathedrale hatte uns damals tiefe Einblicke in ihr Innerstes erlaubt
Nein, das ist nicht mehr „unsere“ Kathedrale. Vor nun bald 25 Jahren waren wir dort fast immer allein, konnten die Athmospäre des Raums, seine Stielle auf uns wirken lassen.
Damals hat uns die Kathedrale tiefe Einblicke in ihr Innerstes erlaubt. Wir durften außen auf dem schmalen Steg um das Dach herum laufen, im Dachstuhl und in den Glockentürmen drehen, und in der Krypta, vor der man damals noch nicht anstehen musste.
Das Labyrinth haben wir für unsere Filmaufnahmen noch von den Stühlen frei räumen müssen, die für die Betenden dort standen. Heute ist es unter den Menschenmassen, die darauf im Kreis laufen, kaum noch zu sehen.
Und ein ganz besonderes Ereignis haben wir damals zum Abschluss der Filmaufnahmen erlebt: wir haben die alljährliche internationale Pfingstwallfahrt der Jugendlichen von Paris nach Chartres gedreht. Sternförmig sahen wir sie über das flache Land in Gruppen auf die Kirche zulaufen.
Und als der ganze gewaltig hohe Raum der Kirche gefüllt war mit jungen Menschen, die dicht gedrängt bis zum Altar auf dem Fußboden saßen und beteten und sangen, war das zutiefst ergreifend.
Das Kapitel Chartres ist nun abgehakt
Als wir Chartres in Richtung La Rochelle verließen, waren unsere Eindrücke und Gefühle zwiespältig: einerseits waren wir enttäuscht, wieviel an Ausstrahlung dieser einst so wunderschöne gotische Sakralbau durch die unsensible Restaurierung eingebüßt hat. Andererseits waren wir doch froh, dass wir diesen Abstecher gemacht hatten. Er hat uns an eine Zeit voll schöner Erlebnisse erinnert, die wir genauso im Gedächtnis behalten wollen.
Anne Temme schreibt
Liebe Ulrike,
Vor wenigen Tagen waren wir in Amiens und in Rouen. Während die Kathedrale von Rouen noch alt und ehrwürdig erscheint, hat man bei der Restaurieung der Fassade in Amiens wohl auch ein wenig zu viel des Guten getan . Das Ergebnis zeigt eine ungewöhnlich glatte und auch zu helle Fläche. Wenn ich an die Restaurierungsarbeiten in Köln denke, die wohl nie aufhören, so erscheinen sie mir doch behutsamer und rücksichtsvoller dem jahrhundertealten Dom gegenüber.
Zurück zu Deinem Bericht über Chartres, auch für mich war Chartres immer die ganz besondere Kathedrale, im Innern dunkel , was das intensive Blau in den wunderschönen Kirchenfenstern noch betonte. Amiens und auch Reims waren dagegen immer heller.Jedes dieser Bauwerke hat einen ganz eigenen Charakter Meiner Meinung nach, sollten diese Besonderheiten erhalten bleiben. Aber die Architekten und Wissenschaftler sehen das wohl anders als die einfachen Kunstfreunde.
Über Deinen nächsten Beitrag freue ich mich jetzt schon.
Annemarie
Ulrike schreibt
Liebe Anne, ich freue mich, dass du das übereifrige Restaurieren genauso kritisch siehst wie ich. Wir haben in Chartres mit einigen Touristen darüber gesprochen, und die meisten waren ebenso enttäuscht wie wir.