Vor einiger Zeit wurde mir ein Buch des Schauspielers und Autors Joachim Meyerhoff ausgeliehen, der mir bis dahin nichts sagte. Dieses Buch hat mir dann aber so gut gefallen, dass ich es unbedingt weiterempfehlen möchte.
Der Titel lautet »Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke« (ein Zitat aus Goethes Werther) und es ist der dritte Teil der autobiographischen Romanreihe »Alle Toten fliegen hoch«. Meyerhoff hat den Stoff ursprünglich als Theaterprojekt verarbeitet, in sechs Teilen, die regelmäßig für ein volles Haus im Wiener Burgtheater gesorgt haben, wo er einige Jahre Ensemblemitglied war und eigene Inszenierungen einbrachte.
Familiengeschichte in Romanform
Erst danach hat er seine eigene Geschichte und die seiner Familie in Romanform veröffentlicht – und er hat begeisterte Rezensionen erhalten.
Zu Recht, wie ich finde!
Der Ich-Erzähler ist zu Beginn des Buches Anfang 20. Er bereitet sich darauf vor, seinen Zivildienst anzutreten, als er völlig unerwartet auf der Otto-Falckenberg-Schule in München angenommen wird. Obwohl er anstatt der erforderlichen drei nur eine einzige Rolle zum Vorsprechen einstudiert hat, wird er, zu seinem eigenen Erstaunen, angenommen, als einer von neun aus 931 Bewerbern …
Die Aufnahme an der Schauspielschule ermöglicht es ihm, sich seiner Trauer um den tödlich verunglückten Bruder und einem Leben voll bedrückender Gedanken und Gefühle zu entziehen.
Die Großeltern leben skurrile Rituale
Er kommt für die Dauer des Studiums bei seinen Großeltern in München unter, die eine schöne Villa beim Nymphenburger Schloss bewohnen.
Seine Großmutter, eine ehemals gefeierte Schauspielerin ‹‹ , und sein Großvater, ein emeritierter Professor der Philosophie ››, leben tägliche Rituale, an denen sich seit Jahrzehnten nichts geändert hat und in denen gepflegter, aber reichlicher Alkoholkonsum eine nicht unbedeutende Rolle spielt.
Die Art, wie der Autor diesen aus der Zeit gefallenen Alltag seiner Großeltern, der ihn ebenso fasziniert wie irritiert, beschreibt, ist voller Empathie, liebevoll und witzig zugleich.
Zwei unterschiedliche Welten
In krassem Gegensatz zu diesem großelterlichen Leben, das ganz und gar dem Schein huldigt, stehen seine Lehrjahre an der Schauspielschule, von deren teilweise abstrusen Unterrichtsmethoden er sich maximal überfordert fühlt. Man verlangt von ihm, dass er sein bisher als Ganzes empfundenes Sein in seine Einzelteile zerlegt, bisherige Selbstverständlichkeiten wie Sprechen und Atmen werden zur Qual:
»In diesem Raum, an dieser Wand, an diesem Vormittag verlor meine Atmung ihre Unschuld, wurde von der schütteren Sprecherzieherin gnadenlos entjungfert. Ich hasste meinen Atem, der nicht tat, was ich wollte. Der stockte und klemmte. Der alles andere war als ein weicher Fluss, auf dem die Vokale strömten. Nie hatte ich mich beim Sport um diesen Atem gekümmert. Immer hatte er mich trotz größter Anstrengung verlässlich mit Sauerstoff versorgt. Doch an dieser Wand, an der nun tatsächlich mein Atemselbstverständnis exekutiert worden war, ging etwas zu Ende und eine Leidensgeschichte begann.«
Der Unterricht als Folter
Je mehr Zeit vergeht, umso mehr plagen ihn Zweifel, ob er wirklich zum Schauspieler geeignet ist.
Doch was sich für den jungen Schauspielschüler teilweise wie Folter anfühlt, ist für den Leser ziemlich belustigend. So soll er sich zum Beispiel vorstellen, ein Nilpferd zu sein und gleichzeitig eine Szene aus Fontanes »Effi Briest« spielen:
»Ich ging in die Knie, machte mich so schwer ich konnte, versuchte irgendwie fett auszusehen und stapfte mit Nilpferdblinzeln hinaus auf die Bühne. In den nächsten Minuten verlor ich vollkommen mein Zeitgefühl. Mein Text schien ewig zu dauern. Ich wurde nervös, machte aber weiter nichts, als sehr langsam zu sprechen, zu blinzeln und zu versuchen, einen riesigen Hintern zu haben. Ich hatte mir fest vorgenommen hin und wieder mein Maul aufzusperren, mit unsichtbaren Hauern in die Luft zu schnappen, aber der Mut kam mir abhanden. Maulend zerkaute ich den Text und eine sich von der Zungenspitze rasant ausbreitende Dürre trocknete meinen Mund aus … «
Solche und ähnliche für ihn sinnentleerte Übungen stürzen ihn in tiefe Verwirrung, und die damit verbundenen Versagensängste versucht er dann abends auf dem Sofa in Gesellschaft seiner Großeltern in Rotwein zu ertränken.
Witz und ironische Distanz
Die Beobachtung der abstrusen und durch nichts zu erschütternden Gewohnheiten seiner Großeltern lenkt ihn ab und scheint ihm den nötigen Halt zu geben, der ihm tagsüber abhanden gekommen ist:
»Meine Großeltern hörten jeden Abend Musik. Sie hatten nur wenige Platten, die durch ihr immer und immer wieder Hören arg mitgenommen waren. Es begann eines ihrer abstrusesten Rituale, dem sie, egal, was um sie herum geschah, die Treue hielten. Sie zündeten Kerzen an und legten sich gemeinsam auf eine große Kaschmirdecke auf den Boden. Da lagen sie dann, wie Tote, die sich selbst aufgebahrt hatten. Das taten sie auch, wenn Besuch da war, sagten: ‚Lasst euch nicht stören, aber wir hören jetzt unsere Musik!‘ Bestimmte Platten blieben immer an denselben Stellen hängen, und es dauerte lange, bis sie es merkten. Niemand wagte es, die in der Rille verhakte Nadel zu befreien. Sie dösten. Lagen auf dem Boden, hielten sich an den Händen, und die Gäste saßen da und sahen ihnen beim Musikhören zu.«
Auf fast jeder Seite muss man lachen
Der Autor wechselt mühelos zwischen dieser in skurrilen Ritualen versteinerten und irgendwie auch tragischen Welt seiner Großeltern und den für mich sehr spannenden Einblicken hinter die Kulissen des Theaters und die Formung seiner Akteure.
Witz und ironische Distanz, das großartige Beobachtungsvermögen und die treffsichere Sprache des Autors machen die Lektüre dieses Buches zu einem echten Genuss, und ich kann es gerade in diesen wenig lustigen Zeiten sehr empfehlen.
Ein schönes Buch, das auf fast jeder Seite zum Lachen bringt!
Das Buch ist 2015 bei KiWi erschienen.
Ich freue mich über Eure Meinung!