Während meines Gesprächs mit der Bestatterin Lydia Gastroph › kam die Rede auch auf das Buch Accabadora ›› von Michela Murgia. In diesem zweiten Roman der jungen sardischen Autorin (geb. 1972) geht es um eine alte, im Verborgenen ausgeübte Tradition auf Sardinien, die bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts Bestand hatte.
Da wir vergangenen Spätsommer zum ersten Mal auf Sardinien waren und ich von der immer noch spürbaren archaischen Kultur dieses einst armen Hirtenvolkes sehr fasziniert war, habe ich mir das Buch gekauft – und ich habe es fast in einem Rutsch gelesen.
Die Sprache dieser vielversprechenden Autorin ist unglaublich lebendig, so karg wie das Leben in ihrer Heimat und zugleich so poetisch – man fühlt sich unmittelbar in das Geschehen hineingezogen.
Der Roman spielt in den 1950er Jahren in dem fiktiven Ort Soreni, im Landesinneren der Insel gelegen. Die Ausgangssituation ist die alte sardische Tradition, dass arme, kinderreiche Familien solchen, die kinderlos geblieben sind, eins ihrer Kinder „abtreten“. Diesen „Fillus de Anima“ (Kinder der Seele) wird ein Zuhause und eine Zukunft geboten, dafür sind sie später für die neuen Eltern da, wenn diese alt und pflegebedürftig sind. So ist diese „Adoption“, die ohne jeden Behördeneingriff funktioniert, zum beiderseitigen Nutzen.
Die alte Frau umgibt ein düsteres Geheimnis
Eine solche Beziehung zwischen einem Mädchen und einer einsamen Frau liegt dem Roman zugrunde:
Die sechsjährige Maria Listru, vierte und jüngste Tochter einer bitterarmen Witwe, wird von der vergleichsweise wohlhabenden Schneiderin Bonaria Urrai an Kindes Statt in ihr Haus aufgenommen. Zwischen dem Kind und der einsamen alten Frau entwickelt sich nach und nach eine enge Beziehung voller Wärme und Vertrauen. Tzia Bonaria wird zu der Mutter, die die leibliche Mutter von Maria nie war.
Maria wächst zu einem intelligenten, selbstbewussten jungen Mädchen heran, das kritisch und aufmerksam beobachtet, was rundherum vor sich geht.
Und sie spürt, dass ihre neue Mutter von einer düsteren Aura umgeben ist, die sie nicht entschlüsseln kann, und sie sieht das erschreckte Flackern in den Augen der Dorfbewohner, wenn sie der schwarzgekleideten Gestalt begegnen.
Die Accabadora als „Sterbeamme“
Doch erst als junge Erwachsene versteht sie, dass ihre Ziehmutter ein geheimes zweites Leben führt: sie ist die „Accabadora“ (etwa „eine, die es zu Ende bringt“), deren Aufgabe es ist, sterbenden Menschen den Todeskampf zu verkürzen – Sterbehilfe auf sardisch, die auf eine Jahrhunderte alte Tradition zurückblickt.
Obwohl jeder im Dorf – außer Maria – vom gefürchteten und doch geachteten Tun der alten Frau weiß, reagiert das junge Mädchen entsetzt auf diese Erkenntnis.
Sie bricht mit ihrer Ziehmutter und verläßt die Insel, um sich bei einer reichen Familie in Turin als Kindermädchen zu verdingen.
Am Ende des Romans kehrt Maria in ihr Heimatdorf zurück, um ihre todkranke Adoptivmutter zu pflegen. Sie beginnt zu verstehen, dass deren Tätigkeit ein Akt der Nächstenliebe war, und sie kann ihr verzeihen. Das Ende der Geschichte ist erwartbar, und doch ist es so emotional und ergreifend, dass man noch lange darüber nachdenken muss.
„Accabadora“ ist für alle, die Sardinien kennen und lieben und sich für seine Kultur interessieren, eine sehr spannende und zugleich ergreifende Lektüre. Davon abgesehen bietet der Roman auch Menschen, die keine ausgewiesenen Sardinienfans sind, echtes Lesevergnügen!
Ich habe das Buch im Original (erschienen bei Einaudi) gelesen. Es liegt in deutscher Übersetzung beim Wagenbach Verlag vor.
anne bauer schreibt
Dieses Buch hat mich auch sehr lange zutiefst bewegt und beschäftigt. Ich freue mich, dass es dir auch so gut gefallen hat, dass du darüber geschrieben hast. Sehr schöne Zusammenfassung, nun erinnere ich mich wieder gut daran. Vielen Dank!
Ulrike schreibt
Du hast mir das Buch ans Herz gelegt, liebe Anne! Ich habe dir zu danken!