Kürzlich habe ich ein Interview mit dem Schriftsteller Uwe Timm gelesen, in dem es auch um den Tod seines älteren Bruders ging, der sich als 18-Jähriger freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte. Er wurde ein Jahr später in der Ukraine schwer verwundet und starb. In seinem Buch „Am Beispiel meines Bruders“ beschreibt Timm, welche Auswirkungen der Soldatentod seines Bruders auf seine Kindheit und letztlich auf sein ganzes Leben hatte.
Ich denke, kaum jemand in meiner Generation ist nicht in irgendeiner Form von einem kriegsbedingten traumatischen Ereignis in der Familie betroffen. So ist es auch bei uns.
In meinem Geburtsort, wo ich bis zu meinem 9. Lebensjahr wohnte, gab es eine Näherin, ein ältliches Fräulein namens Maria, das häufig zu uns nachhause kam, um Näharbeiten für meine Mutter, meine Tante und meine Großmutter zu erledigen. Aufgrund einer Kinderlähmung trug sie eine Schiene, die sie geräuschvoll auf- und zuklappte, wenn sie das Trittbrett der Nähmaschine bewegte. Oft stand ich neben ihr, sah ihr zu und lauschte ihren Geschichten. Irgendwie gehörte sie zur Familie, und sie kannte Zusammenhänge, über die sonst niemand sprach.
Ich war vielleicht 8 Jahre alt, als ich sie fragte, wieso auf den Hochzeitsbildern meiner Eltern meine Schwester zu sehen war, wo Kinder doch erst geboren werden konnten, wenn Eltern bereits verheiratet waren.
Ich erinnere mich, wie sie mich mit ihren wasserhellen Augen über den Brillenrand hinweg ansah und fragte: „Ja weißt du denn nicht, dass das gar nicht deine richtige Schwester ist?“
Ich war schockiert. Meine Schwester war gar nicht meine Schwester? Wie konnte das sein?
Und sie erklärte mir, dass meine Mutter nicht die Mutter meiner Schwester sei, dass es da eine andere Frau gegeben habe, die meine Schwester auf die Welt gebracht habe.
Ich verstand nichts.
Und erst nach und nach habe ich dann erfahren und – viel später noch – begriffen, was geschehen war: Es war 1945. Mein Vater lebte damals in Danzig, mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern, vier Jahre und acht Monate alt. In den letzten Kriegstagen schloss sich die Familie einem der Flüchtlingstrecks an, die damals vor den Russen nach Westen flohen. Sie fanden Platz in einem Wagen vom Roten Kreuz.
Dann wurde der Treck von Tieffliegern beschossen, die auch die Wagen mit dem roten Kreuz auf dem Dach nicht verschonten. Mein Vater packte die Kinder, um sie in den Straßengraben in Sicherheit zu bringen. Als er zum Wagen zurückkam, fand er seine Frau und seine Schwiegermutter tot, erschossen. Und als er zu den Kindern zurücklief, war auch seine ältere Tochter tot. Sie lag über dem Baby, dem sie damit vielleicht das Leben gerettet hat.
Die folgenden Jahre brachte mein Vater das Kind bei wechselnden fremden Familien unter, zuletzt bei seinem Bruder in Hamburg.
1948 haben meine Eltern geheiratet. Es war wohl eine Vernunftehe, zustande gekommen aufgrund einer Annonce in der Apothekerzeitung, die meine Tanten aufgegeben hatten. Sie suchten für ihre depressive Schwester einen Mann und einen Nachfolger für die Apotheke meines Großvaters. Mein Vater, der dringend eine Mutter für sein Kind brauchte, und meine Mutter, die aus Trauer um ihren im Krieg gefallenen Verlobten jeden Lebensmut verloren hatte, fanden so zusammen. Sie nahmen meine Schwester zu sich.
Sie war ein sehr schwieriges Kind. Weder meine Mutter noch die mütterliche Verwandtschaft konnten eine wirkliche Beziehung zu ihr aufbauen. Und mein Vater soll einmal in einem Moment verzweifelter Hilflosigkeit zu ihr gesagt haben „Warum hast gerade du überlebt!?“
Auch ich habe nie wirklich Zugang zu ihr gefunden. Noch als ich längst erwachsen war, hat sie mich bevormundet, sich in mein Leben eingemischt und mich mit Nichtachtung „bestraft“, wenn ich ihrer Meinung nach etwas falsch entschieden hatte. Ich hatte Angst vor ihren Launen und habe immer versucht, es ihr Recht zu machen, was aber kaum je gelang. Der Umgang mit ihr war ein ständiger Eiertanz.
Natürlich ahnte ich, dass ihr Verhalten eine Folge ihrer traumatischen Kindheit war. Sie tat mir so leid. In guten Momenten konnte ich mit ihr darüber sprechen. Sie ist Ärztin geworden und wusste, dass sie eigentlich Hilfe brauchte. Aber sie hat eine Therapie abgelehnt, aus Angst vor den dann hochkommenden Gefühlen.
Der Eklat
Und eines Tages, in einem gemeinsamen Urlaub, kam es zum Eklat. Ich war gestresst, es war in der Anfangszeit unseres Unternehmens. Sie war gewohnt zickig und es war so anstrengend mit ihr, dass ich irgendwann die Beherrschung verlor und ihr den all die Jahre über aufgestauten Frust ins Gesicht schrie.
Sie hat es mir nie verziehen. Das ist jetzt mehr als zwölf Jahre her. Immer wieder habe ich sie um Verzeihung gebeten. Umsonst.
Meine Schwester und ich sind die beiden letzten Überlebenden unserer Ursprungsfamilie. Sie ist jetzt 73. Ich habe sie verloren, obwohl sie lebt.
Ich hoffe, es geht ihr gut.
Wenn ich an sie denke, wird mein Herz schwer.
Anne schreibt
Oh je, das ist ein echt übles Schicksal. Ich kämpfe mit den Tränen. ????????????
Maria-Elena Simmer schreibt
06 September 2017
Maria-Elena
Eine sehr traurige aber auch sehr interessante Geschichte
Ulrike schreibt
Liebe Maria-Elena, ja, das ist so. Aber dies ist nur ein Beispiel von viel zu vielen, wie ich fürchte. Je mehr ich mich umhöre, umso mehr solche Schicksale werden erzählt.
Irmtraud schreibt
Beim Lesen erinnerte ich mich der anrührenden short stories von Alice Munroe, der Literaturnobelpreisträgerin von 2013. Ich mag Deinen Erzählstil!
Ulrike schreibt
Das ist ein sehr ehrenvoller Vergleich, Irmtraud! Danke Dir! Es macht mir Mut …