Ich glaube, diese Feststellung kennt jeder aus eigener Erfahrung: »Die Welt ist so klein!« Kopfschüttelnd sagen wir diesen Satz, wenn wir Geschichten hören oder Menschen kennenlernen, die über verschlungene Wege mit uns verbunden sind, ohne dass wir es geahnt haben. Kann es sein, dass sich solche Momente in letzter Zeit häufen oder kommt es mir nur so vor? Mir scheint jedenfalls, dass ich sie immer öfter erlebe. Zufall? Oder gibt es einen Zusammenhang mit dem Älterwerden? Ich weiß es nicht.
Von einer solchen Geschichte, bei der Fäden zusammenlaufen, die vor vielen Jahren gesponnen worden sind, möchte ich hier berichten.
Es kam so:
Eins der ersten Porträts, die ich für das eigenleben-Magazin geschrieben habe, ist das über die »Seelenpflegerin« Pascale Lorenc‹ . Pascale ist eine liebe Freundin, und hin und wieder erzählt sie mir, mit welchen schwierigen, aber auch schönen Seiten sie in ihrem Beruf als Gesellschafterin für ältere Menschen zu tun hat.
Im letzten Herbst hat mir Pascale von einem Anruf berichtet, den sie soeben aus Berlin erhalten hatte. Die Anruferin, erzählte sie mir, hat im Internet nach einer Gesellschafterin für ihre betagte, in München allein lebende Mutter gesucht. Dabei ist sie auf meinen Artikel über Pascale gestoßen und hat sofort das Gefühl gehabt, das könnte genau das sein, was sie sich vorstellte.
Außerdem habe ihre Mutter sich schon öfters dahingehend geäußert, dass sie gern ihre Lebenserinnerungen aufschreiben würde. Vielleicht in Zusammenarbeit mit jemandem, der das Schreiben für sie übernehmen könnte. Mein Name als Autorin des Artikels fiel und die Dame in Berlin meinte, ja, das könnte passen.
Der rebellische Sohn wird nach Übersee geschickt
Ich hab mich sehr gefreut, dass mein Beitrag im Magazin Pascale möglicherweise zu einer neuen Klientin verhalf. Und die Aussicht, die Memoiren der alten Dame zu betreuen, fand ich natürlich spannend.
Ich fragte Pascale nach dem Namen der alten Dame, und als ich ihn hörte, dachte ich, das kann doch nicht wahr sein, was für ein interessanter Zufall! Handelt es sich doch tatsächlich um die Witwe eines Autors und Übersetzers, den ich schon als junges Mädchen sehr geschätzt habe. Vor allem seine Übersetzungen großer lateinamerikanischer Schriftsteller haben mich damals bei der Wahl meines Studienfachs indirekt beeinflusst.
Ich war elektrisiert. Im Internet fand ich wenig über die Ehefrau des berühmten Mannes, entdeckte aber, dass er selbst einen autobiographischen Roman geschrieben hat. Vielleicht erfuhr ich daraus mehr über sie und konnte mich so ein bisschen auf ein erstes Gespräch mit ihr vorbereiten.
Ich besorgte mir also das Buch und begann zu lesen. Die wichtigsten Protagonisten tragen in dem Roman geänderte Namen, die aber, wenn man die Klarnamen kennt, leicht zuzuordnen sind.
Zu Beginn des 600-Seiten-Werks betrachtet der Großvater des Autors ein altes Foto, auf dem seine Eltern und Geschwister abgebildet sind. Wir erfahren seine Gedanken und Erinnerungen zu den einzelnen Personen auf dem Bild, vor allem aber zu seinem jüngeren Bruder Oscar, den er als »romantischen Rebell« bezeichnet, weil er aus der Tradition der Fabrikantenfamilie ausbrechen wollte. Um diesem unbotmäßigen Oscar die Flausen auszutreiben, schickten seine Eltern ihn nach Argentinien. Er sollte sich dort in der Einsamkeit der Pampa die Hörner abstoßen.
Dieser Name war mir absolut geläufig
Oscar hat Glück. Er tut sich mit zwei Brüdern aus Deutschland zusammen, die in der Provinz Santa Fé eine Estancia betreiben. Gemeinsam bewirtschaften sie die Farm und machen sie groß.
1876 heiratet Oscar eine junge Frau namens Anna, die zu einem späteren Zeitpunkt nachgereiste Schwester der beiden Deutschen, und bekommt mit ihr acht Kinder.
Oscar und Anna beschließen, dass ihre Kinder europäisch erzogen werden sollen, und kehren im Jahr 1888 in die alte Heimat zurück. Doch jedes Jahr reist Oscar nach Argentinien, um auf der Estancia nach dem Rechten zu sehen.
Und hier, auf Seite 45 im Buch, wird nun der Name der Estancia erwähnt.
Und — ich reibe mir verwundert die Augen – dieser Name ist mir absolut geläufig: mein Schwiegervater hat ihn oft genannt, wenn er von seiner eigenen Familiengeschichte erzählt hat.
Sein Großonkel nämlich, ein Arzt, der wie viele Menschen damals an Tuberkulose litt, war in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Argentinien ausgewandert, weil er hoffte, das dortige Klima würde seinem geschwächten Körper guttun. Er wurde von seinem Bruder, einem Theologen, begleitet, der den Kranken unterstützen sollte. Und dieser Pfarrer wurde später der Großvater meines Schwiegervaters.
Die Brüder kauften Land und gründeten eine Estancia, der sie genau den Namen gaben, den ich gelesen hatte, und die in derselben argentinischen Provinz Santa Fé lag wie die im Buch.
Es konnte kaum sein, dass es in dieser Gegend damals zwei große, von Deutschen betriebene Farmen desselben Namens gegeben haben sollte.
Ich fragte meinen Mann, und tatsächlich, der (echte) Familienname des jungen Oscar, von dem im Buch erzählt wird, war ihm durchaus ein Begriff. Er ist immer mal wieder gefallen, wenn in der Familie von der argentinischen Farm die Rede war.
Es ist genauso so, wie wir vermutet haben
Wir haben angefangen, zu recherchieren. Und sehr schnell hat sich herausgestellt, dass es tatsächlich so ist, wie wir vermutet haben: die Ahnen meines Mannes haben mit Oscar, dem Großonkel des Autors, gemeinsam das argentinische Landgut geführt.
Und das bedeutet, mein Mann und die Anruferin aus Berlin und ihre in München lebende Schwester, also die Töchter des Autors und seiner Witwe, haben durch die Heirat zwischen Oscar und Anna in Argentinien vor mehr als 150 Jahren gemeinsame Vorfahren!
Die älteren Geschwister meines Mannes wurden eingeschaltet. Sie alle kennen die Estancia aus eigenem Erleben. Zum Teil waren sie über Monate dort bei den Nachfahren der Gründer zu Besuch gewesen, bevor das Anwesen in den 1970er Jahren verkauft worden ist.
Alte Dokumente und Fotos tauchten auf, wir entdeckten, dass es auf dem Gebiet der Estancia noch heute eine kleine Stadt gibt, die den Nachnamen Oscars trägt. Sie ist um die Bahnstation herum entstanden, die die Besitzer der Estancia bauen durften, um mit der Eisenbahn ihre Rinder zum Verkauf nach Buenos Aires oder Córdoba zu transportieren.
Als ich den beiden Töchtern des Autors von diesen überraschenden Zusammenhängen erzählt habe, fanden sie das genauso unglaublich wie wir. Auch ihr Vater hat lange Zeit in Südamerika gelebt, ist dort vom Unternehmer zu dem Autor und Übersetzer geworden, der die lateinamerikanische Literatur in Deutschland erst bekannt gemacht hat. Doch mit seiner Rückkehr von dort endet die Autobiographie.
Seine Frau aber hat er erst danach in Deutschland kennengelernt. Ich wusste also nach wie vor nur das Wenige über sie, das mir die Töchter bei unseren Telefonaten mitgeteilt haben.
Das erste Treffen – ein Anfang?
Kurz vor Weihnachten habe ich die alte Dame in München dann zum ersten Mal besucht. Wir haben uns lang unterhalten und sie hat mir viele spannende Geschichten aus ihrem Leben erzählt.
Inzwischen hat sie begonnen, ihre Erinnerungen in Stichworten zu notieren. Einen ersten Teil davon habe ich schon zu lesen bekommen, und ich muss sagen, das ist wirklich ein höchst interessanter Stoff.
Ob und in welcher Form es zu einer Veröffentlichung kommen soll, ist noch nicht entschieden. So warten wir also auf die Lockerungen der Corona-bedingten Besuchsbeschränkungen, um bei einem nächsten Treffen das weitere Vorgehen zu besprechen.
Aber ob die Memoiren als Buch oder als Film oder auch nur als privates Dokument festgehalten werden sollen – die Beschäftigung mit dem Thema macht mir große Freude, natürlich auch wegen des familiären Zusammenhangs.
So hat der Zufall (oder die Vorsehung?) dazu geführt, dass wir detaillierte Einblicke in eine Epoche gewonnen haben, die die Geschichte zweier Familien geprägt hat, die – auch wenn sie sich im Laufe der Generationen aus den Augen verloren haben – doch durch gemeinsame Ahnen verbunden sind.
Für mich eine faszinierende Geschichte. Wer weiß, was daraus noch entstehen mag …
Kalay schreibt
WOW, TOLL Glückwunsch, WAS für eine FÜGUNG: Genial.
So was kann man sich nicht ausdenken. Das Universum arbeitet sehr zielgerichtet, oder?
„Mein Leben basiert auf einer wahren Geschichte“ – DAS habe ich neulich mal als Buchtitel (?) irgendwo ausfgeschnappt.
Habe kürzlich ähnliches erlebt mit Radio BR2 = 16 Uhr „1:1- Der Talk“ und dem Familien-Roman „Schwäne in Weiß & Gold“ von Christine Gräfin Bühlow (Aufbau Verlag).
MfG.