Vor einigen Monaten habe ich mir ein Buch gekauft, über das ich irgendwo eine positive Rezension gelesen hatte: Die letzten Dinge von der Journalistin und Literaturredakteurin der ZEIT, Iris Radisch.
Dann verschwand es im Stapel der noch ungelesenen Bücher – bis es mir vor ein paar Wochen zufällig wieder in die Hände fiel. Ich hab mir den Titel näher angesehen und den Untertitel Lebensendgespräche entdeckt, darunter eine Liste mit Namen durchweg berühmter Autoren, von denen ich die meisten sehr schätze.
Ich hab also angefangen zu lesen – und das Buch hat mich sofort gefangenengenommen. Internationale Schriftsteller und Intellektuelle berichten darin im Gespräch mit der Autorin, wie das Schreiben ihr Leben beeinflusst hat und zu welchen Einsichten und Erkenntnissen sie am Ende ihres langen Lebens gelangt sind.
Unbedingt lesenswerte Gespräche
Alle diese Texte, denen die Autorin jeweils ein Foto ihres Gesprächspartners vorangestellt hat, sind spannend zu lesen. Zwei der Autoren aber, die mir bisher fremd waren, haben mich besonders interessiert und ich habe mir die besprochenen Bücher besorgt.
Hier möchte ich über das Buch Paris-Rom oder Die Modifikation (im Original: La Modification) des französischen Autors Michel Butor, einem der bekanntesten Vertreter des Nouveau Roman, schreiben.
Das französische Wort »modification« kann man mit »Abänderung« oder auch »Wesenveränderung« übersetzen – beides trifft auf das Thema dieses Romans zu, für den der damals 31-jährige Autor im Jahr 1957 den renommierten Prix Renaudot erhalten hat.
Es geht um Léon Belmont, den französischen Handelsvertreter einer italienischen Schreibmaschinenfirma mit Sitz in Rom, der mehrmals im Jahr geschäftlich mit dem Zug von seinem Wohnort Paris nach Rom zu seinen Arbeitgebern reist.
Bei einem dieser Rom-Aufenthalte lernt er eine junge Frau – halb Französin, halb Italienerin – kennen, mit der er ein Verhältnis beginnt.
Der Roman setzt ein mit dem Beginn einer solchen Reise, die der Protagonist diesmal allerdings privat unternimmt: er möchte die Geliebte mit seiner Entscheidung überraschen, dass er Frau und Kinder in Paris verlassen will, um zukünftig dort mit ihr zusammen zu leben. Einen Arbeitsplatz für sie hat er schon gefunden, die gemeinsame Wohnung wird er auch noch besorgen.
Die äußere Reise wird zu einer inneren
Während der 21 Stunden dauernden Reise schlüpft der Leser buchstäblich in die Haut des Protagonisten und erfährt durch dessen Gedanken und innere Monologe den Hintergrund der Geschichte, seine Erinnerungen und Pläne, seine Träume und Halluzinationen. Je mehr der Reisende sich Rom nähert, um so mehr hinterfragt er die Entscheidung, die er getroffen hat. Und als er sein Ziel erreicht, wird klar, dass er die Geliebte nicht treffen und ein neues Leben mit ihr beginnen wird, weil er verstanden hat, dass sich damit nichts für ihn ändern wird, sondern dass er mit dieser neuen Frau in genau die gleiche Abhängigkeit geraten wird, die ihn seine aktuelle Situation so hassenswert macht.
Die Reise nach Rom bedeutet also nicht nur eine Ortsveränderung sondern auch eine Wesensveränderung des Protagonisten.
Schon im ersten Satz wird der Reisende vom Erzähler mit »du« (in der Originalversion mit »vous«) angesprochen, was einen als Leser zunächst irritiert, dann allerdings aber schnell dazu führt, das man sich mit Léon Delmont identifiziert, seine Gedanken und Zweifel zu seinen eigenen macht.
Das Buch hat mich fasziniert
Das Buch (ich habe es im Original gelesen) hat mich unglaublich fasziniert.
Wie reale Reiseeindrücke Léons Gedanken in die Vergangenheit, aber auch in die Zukunft springen lassen, welche Assoziationen die verschiedenen Mitreisenden in ihm wecken, wie sich seine Persönlichkeit im Laufe der Reise verändert, all das finde ich ganz großartig dargestellt.
Dieses Buch ist eins der besten, die ich zuletzt gelesen habe und ich empfehle er wärmstens allen, die sich für außergewöhnliche Literatur interessieren.
In der französischen Ausgabe gibt es am Ende des Buches von dem französischen Schriftsteller und Ethnologen Michel Leiris ›› noch eine lesenwerte Analyse des Textes für literaturwissenschaftlich Interessierte: »Le réalisme mythologique de Michel Butor« (1958).
Die deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Helmut Scheffel (dt. Titel: Paris-Rom oder Die Modification) wurde 2017 vom Suhrkamp Verlag neu herausgegeben.
dodo lazarowicz schreibt
das kling tatsächlich spannend. was ich mich frage: leon plant das neue leben mit der neuen frau im alleingang, um der das ergebnis zu präsentieren. kommt er gar nicht auf die idee, dass man so etwas auch als überfall bewerten könnte und dass sie nein sagt?
klärt sich inm lauf der reise, warum er derart in abhängigkeit geraten ist, die er hasst? und wieso kommt er zu dem ergebnis, dass das verhältnis enden wird wie seine jetzige ehe?
somit wird er nicht sein leben modifizieren, sondern nur seine sicht der dinge und eventuell sein verhalten zu der „alten“ frau?
danke für die besprechung, ulrike
dodo
Ulrike schreibt
Liebe Dodo, alle deine Fragen werden in dem Buch beantwortet – das ist ja gerade das Thema, dass der Protagonist im Laufe der Reise sich über viele Dinge klar wird und dass der Leser den gesamten Hintergrund kennenlernt. Danke für deinen Kommentar!