Was für traurige Zeiten: keine Treffen unter Freunden, keine Museen, keine Ausstellungen, kein Theater, kein Kino, keine Konzerte … Wir befinden uns im zweiten Lockdown, diesmal »light« genannt, aber dennoch mit denselben Auswirkungen, die auch der vom vergangenen Frühjahr hatte: Wir haben Entzugserscheinungen bezüglich unseres gewohnten Kulturkonsums.
Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass die Ausstellung »Menschen« des Münchner Bildhauers und Malers Leon Pollux dennoch stattfinden kann.
Lichtblick in einer kulturarmen Zeit
Eigentlich war sie bereits für April 2020 geplant, konnte aber wegen des ersten Lockdowns nicht stattfinden. Sie wurde auf November verschoben. Und als dann die neuen Beschränkungen ab 2. November angekündigt wurden, war auch dieser Termin in Gefahr.
Doch – glückliche Fügung – schon im letzten Frühjahr hatte der Veranstalter den Ausstellungsort Marstall ›› in Schloss Berg als Galerie »Kunsthaus Marstall« ›› ins Handelsregister eintragen lassen, und als solche darf der Raum geöffnet bleiben.
So konnte am 6. November tatsächlich die Vernissage stattfinden, Corona-bedingt in zwei Zeitfenstern. Wie auch die Öffnungszeiten der Ausstellung, die noch bis zum 13. Dezember läuft, eingeschränkt sind und die Einhaltung der sogenannten AHA-Regeln genau beobachtet wird. Dies auch zum besonderen Schutz des Künstlers selbst, der kurz nach seiner letzten Ausstellung »Schlaflied«› , über die ich damals berichtet habe, eine lebensbedrohliche Diagnose erhalten hat.
Jeder Kopf ein Individuum
Wir haben uns also am Tag nach der Ausstellungseröffnung bei traumhaftem Herbstwetter auf den Weg nach Berg gemacht. Und unsere Erwartungen wurden nicht enttäuscht.
Beim Betreten der ehemaligen Stallungen von König Ludwig II. zieht uns die Installation »Menschen« sofort in ihren Bann.
Im Mittelbereich des schönen Ausstellungsraums mit seinen schlanken Säulen sind auf einem kniehohen Podest 72 Granitstelen aufgereiht, an den vier Ecken von den Nachbildungen typischer Häuser begrenzt. Jede der Stelen trägt einen Kopf aus Keramik mit individuellen Zügen. Ein Heer von Menschen dunkler Hautfarbe, vom Kind bis zum Greis, Männer und Frauen, deren Gesichter die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen und Befindlichkeiten ausdrücken.
Turbanartige Tücher, Schmuck und Haarfrisuren sind dem Stil und der Tradition nachempfunden, wie sie von den Angehörigen verschiedener afrikanischer Volksstämme gepflegt werden. An ihren typischen Kopftrachten sind Krieger zu erkennen, und der reiche Goldschmuck mancher Frauenköpfe verweist auf das Volk der Madingos, die durch jahrhundertelangen Handel quer durch die Sahara reich geworden sind.
Und ganz vorn ruhen auf einem groben Tuch zwei Föten, geformt aus Keramik und mit seltsam alten Gesichtern.
»Einige der Köpfe sind Abbilder lebender Menschen, die ich nach Fotos gestaltet habe« erklärt der Künstler, der seine Kindheitsjahre in Liberia verbracht hat. »Die meisten habe ich aber nach der Erinnerung geformt.«
Der Eindruck von Lebendigkeit ist faszinierend
Unglaublich lebendig wirken diese Köpfe, jeder einzelne scheint eine Geschichte zu erzählen. Und auch hier beschleicht mich wieder das merkwürdige Gefühl, dass manche mir mit dem Blick zu folgen scheinen. Wie damals bei den trauernden Frauengestalten in der Ausstellung »Schlaflied«, die mich ebenfalls zu beobachten schienen.
Der Eindruck von Lebendigkeit wird noch verstärkt durch das Echthaar, das die meisten Köpfe tragen und das, so erzählt Leon Pollux, ein Frisör in Togo für ihn gesammelt hat. Der Künstler hat dieses Haar dann akribisch zu den Frisuren der lebenden Vorbilder geformt und in mühsamer Feinarbeit mit der Pinzette aufgetragen. »Bis auf die Dreadlocks. Das sind Spenden von Flüchtlingen, die ich hier kennengelernt habe.«
Die zentrale Installation der Menschen-Stelen wird auch hier ergänzt von Bildern und Skulpturen des Künstlers, die zum Teil erst in den letzten Monaten entstanden sind. Schlanke, armlose Schutzgeister, aus Holzstücken geschnitzt, mit ausdrucksstarken Keramikköpfen, Gottheiten, Wächterfiguren und Masken.
Im Spannungsfeld zwischen Hightech und Archaik
Und dann ist da noch die dunkel gekleidete Gestalt eines Fischers, der in einem Einbaum kniet. Das Ruder hat er auf dem Bootsrand abgelegt, das Gesicht ist hinter einer hölzernen Maske verborgen und vor der Brust trägt er einen kleinen Bildschirm.
»Süden« hat der Künstler dieses Werk genannt. Der Titel soll auf die oft benachteiligten und unterentwickelten Regionen des Südens aufmerksam machen. Der Monitor, den die Gestalt auf der Brust trägt, verweist auf das Spannungsfeld zwischen Hightech und Archaik. Er ersetzt den Spiegelfetisch, der den Brustraum des Trägers verschließt und damit die Dämonen abwehrt.
Ein Plädoyer für die Vielheit
Der Künstler möchte seine Ausstellung »Menschen« als ein Plädoyer für die Vielheit verstanden wissen. Er möchte mit der Darstellung dieser unterschiedlichen Figuren die Erinnerung an die Rolle der Weißen für die Geschichte der afrikanischen Länder wecken, er möchte zum Nachdenken anregen über die Auswirkungen von Versklavung und Kolonialisierung.
Und er stellt die Frage: haben wir wirklich das Recht, das wir so selbstverständlich für uns in Anspruch nehmen, die bei uns Schutz Suchenden zurückzuweisen?
»Menschen« ist eine faszinierende Ausstellung, fremdartig und tief berührend zugleich.
Bis zum 13. Dezember 2020 ist sie noch geöffnet.
Ein Besuch im Marstall von Schloss Berg könnte den Hunger nach Kultur in diesen schwierigen Zeiten ein bisschen stillen.
Nachtrag vom 20. Januar 2022:
Gestern, am 19. Januar 2022, ist der wunderbare Künstler Leon Pollux seiner schweren Krankheit erlegen.
Ich bin sehr traurig. Aber ich bin auch dankbar, dass ich ihn kennenlernen durfte. Er ist nicht mehr, aber seine Kunst wird bleiben.
Ich freue mich über Eure Meinung!