Es gibt Zeiten, da sind bestimmte Themen aktueller als sonst. Im Jahresablauf ist das der Herbst. Die Blätter fallen, die Natur scheint zu sterben, es ist neblig und kalt. Es wird früh dunkel, und es gibt gehäuft Feiertage wie Allerheiligen oder Totensonntag, die an den Tod erinnern.
Im Leben sind das Momente wie Geburtstage, Krankheits- oder Todesfälle im näheren oder weiteren Umfeld, oder ganz einfach: der Blick in den Spiegel oder ein plötzlicher Schmerz, die das Älterwerden offensichtlich machen.
Die Rede ist vom Gedanken an den Tod, an das unausweichliche Ende allen Lebens. Und von der damit verbundenen Angst vor dem Sterben.
In der F.A.S. ›› vom letzten Wochenende wurde der Angst vor dem Tod ein großer Artikel gewidmet. Er hat mich zum Nachdenken angeregt, aus den obengenannten Gründen (runder Geburtstag ›, Herbst etc.), aber auch, weil ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann, wie wahr die darin aufgestellte Behauptung ist: nur die Konfrontation mit dem Tod, nicht das Verdrängen, hilft, die Angst vor dem Tod in den Griff zu bekommen.
Ich habe mich nicht wirklich verabschiedet
Mir ging es wie offensichtlich den meisten Menschen in jungen Jahren: ich hatte panische, ja geradezu pathologische Angst davor, einen Toten zu sehen. Wenn es auf der Straße einen Unfall gab, habe ich mich hysterisch geweigert, auch nur hinzusehen.
Dann sind meine Eltern gestorben. Meine Mutter ist mit 64 Jahren nach jahrelangem Kampf einer Krebserkrankung erlegen, mein Vater starb zwei Jahre später an einem Herzinfarkt. Ich war damals Anfang 30, lebte entfernt von meinen Eltern in einer anderen Stadt. Sie zu besuchen, war mir eine Qual, ich hatte keine Ahnung, wie ich mit der offensichtlichen Angst meiner Mutter vor dem Sterben umgehen sollte.
Bei beiden Eltern habe ich mich geweigert, sie noch einmal zu sehen, nachdem sie gestorben waren. Ich habe mich nie wirklich von ihnen verabschiedet.
Jahrelang hatte ich danach Alpträume, in denen meine tote Mutter mich vorwurfsvoll und hilfeflehend zugleich ansah. Erst im Rahmen einer Therapie konnte ich mich von diesen Träumen befreien.
Ich bereute zutiefst die verlorene gemeinsame Zeit
Dann starb mein Bruder. Mit 46 Jahren ist er innerhalb weniger Monate an Kehlkopfkrebs gestorben, noch bevor sein Sohn ein Jahr alt wurde.
Obwohl er ebenfalls in München wohnte, hatten wir über Jahre nicht allzuviel Kontakt, wir waren zu sehr mit unserem jeweils eigenen Leben beschäftigt. Als er dann Vater wurde, sind wir uns wieder näher gekommen, und als er kurz darauf die Diagnose erfuhr, die ihm keine Überlebenschance ließ, war das ein Schock für mich. Ich bereute zutiefst, dass wir so viel mögliche gemeinsame Zeit verloren hatten.
Ich habe ihn die letzten Monate seines Lebens fast täglich gesehen, habe voll Verzweiflung seinen Krankheitsverlauf verfolgt, habe mich ihm so nah gefühlt wie nie in unserem Leben als Bruder und Schwester.
Und als er dann gestorben ist, war er der erste Tote, vor dem ich keine Angst hatte, den ich gesehen und berührt und um den ich unendlich getrauert habe.
Seit dieser intensiven Begegnung mit dem Sterben und dem Tod kann ich mit der Angst davor viel besser umgehen. Vor wenigen Jahren war ich dabei, als meine Schwiegermutter starb. Ich habe ihre Hand gehalten und ihren letzten Atemzug miterlebt. Beim Tod meiner eigenen Mutter wäre ich dazu außerstande gewesen.
„Die Überwindung der Todesangst steigert die Lebensfreude“
In dem Zeitungsartikel zur Angst vor dem Tod heißt es, dass „der Erfolg … der Konfrontation (mit dem Tod) messbar“ ist. Menschen, die beruflich andere im Sterben begleiten, verlieren allmählich die Angst vor dem Tod, sie werden empathischer, großzügiger, hilfsbereiter. Es heißt dort sogar: „die Überwindung der Todesangst steigert die Lebensfreude“, macht es möglich „im Hier und Jetzt zu leben, die Gegenwart zu gestalten, den Augenblick zu genießen“ – das ist durch Studien belegt.
Natürlich ist meine Angst durch diese zweimalige Konfrontation mit dem Sterben nicht verschwunden, natürlich gibt es Zeiten, in denen ich mit Sorge an das näher rückende eigene Ende denke, und zwar weniger an das „Dass“ als an das „Wie“. Doch vor allem der Gedanke an mögliche Krankheiten oder gar den Tod in meiner Familie oder im Freundeskreis hat mich zeitweilig so fest im Griff, dass es weh tut. Dann hilft es mir, zu meditieren, in die Natur hinauszugehen, mich daran zu erinnern, wie es war, als mein Bruder starb.
Und dann wird mir wieder bewusst, dass ich jetzt tun muss, was mir wichtig ist und nicht zu denken: „Das kann ich später immer noch machen!“
Das „Memento mori“ früherer Zeiten ist aus der Mode gekommen, aber ich glaube, es schadet nicht, es für sich selbst zuzulassen. Es hilft, weil es uns ermahnt, dankbar jeden Tag zu genießen, lebendig und aktiv zu sein und die verbleibende Lebenszeit nicht zu vergeuden.
Irm schreibt
Liebe Ulrike,
beim Lesen Deines nachdenklich stimmenden, sehr persönlichen Beitrages fiel mir wieder die „Lyrik“ von Mario de Andrade „Meine Seele hat es eilig“ ein. Sie endet mit der Einsicht:
Wir haben zwei Leben und das zweite beginnt, wenn du erkennst, dass du nur eins hast.
In diesem Sinne muss man wohl auch den letzten Absatz Deines Beitrages verstehen.
Irm
Ulrike schreibt
Liebe Irm, danke Dir ganz herzlich für Deinen stimmigen Kommentar zu meinem Beitrag!