Es war in den 70er Jahren. Ich schrieb an meiner Magisterarbeit. Thema war das Romanwerk eines französischen Schriftstellers, Mitglied der Académie Française, der damals schon weit über 80 Jahre alt war. In Deutschland war er als Romancier kaum bekannt, nur seine gelehrten Werke über europäische Kunst und Literatur waren auf deutsch veröffentlich worden.
Ich hatte ihn kontaktiert und er hatte einem persönlichen Trefffen zugestimmt. Ich reiste nach Paris, suchte ihn in seiner Wohnung auf, lernte ihn und seine Frau, eine Kunsthistorikern Anfang 60, kennen. Er war ein Herr alter Schule, immer noch gutaussehend, groß und schlank, weißhaarig, mit besten Manieren. Ich war tief beeindruckt, fühlte mich geehrt von seiner Bereitschaft, mit mir über sein Werk zu diskutieren. Er lobte meinen Interpretationsansatz, schlug mir vor, seine Romane zu übersetzen, denn ich hätte das richtige Verständnis dafür.
Das gefiel mir natürlich sehr.
Ich verehrte ihn.
Mehrmals im Jahr habe ich ihn aufgesucht. Und bei einem dieser Besuche, seine Frau war ausgegangen, bat er mich unvermittelt, mein Oberteil und meinen BH auszuziehen. Er wolle mich nur ansehen, es sei ihm ein ästethisches Bedürfnis, den Körper einer jungen Frau zu betrachten. Ich war schockiert und zutiefst verwirrt. Was sollte ich tun? Ich stand am Ende meines Studiums und ich fühlte mich abhängig von seinem Wohlwollen. Und ich mochte ihn. Er war ein alter Herr, immer sehr höflich, sehr distinguiert. Aber nun dieses Ansinnen? Es klang eher harmlos. Ich tat, was er wollte.
Als ich vor ihm stand, halbnackt, gegen den schwarzen Flügel in seinem Arbeitszimmer gepresst, sah er mich an. Dann betastete er mit seinen alten, vom beginnenden Parkinson zitternden Händen meine Brüste und versuchte, mich auf den Mund zu küssen. Ich wusste nicht, was ich tun, was ich fühlen sollte. Ich wehrte mich halbherzig.
Die Wohnungstür wurde geöffnet. Ich zog mich schnell an. Er sagte: „Ich danke Ihnen. Sie haben mir eine große Freude bereitet.“
Seine Frau kam ins Zimmer. Ich schämte mich zutiefst. Auch für ihn. Ich fühlte mich als seine Komplizin. Heute bin ich sicher, dass sie etwas gemerkt hat. Jahre später, er war schon lange tot, habe ich sie noch einmal besucht. Sie war sehr distanziert und hat Andeutungen gemacht, aus denen klar wurde, dass sie Bescheid wusste. Entweder er hatte ihr etwas gesagt, oder sie hat es selbst vermutet. Möglicherweise war ich auch nicht der einzige diesbezügliche Fall. Ich könnte es mir jedenfalls vorstellen.
Ich habe niemandem davon erzählt.
Bei meinen folgenden Besuchen hat er den Vorfall nicht erwähnt. Wir waren auch nie mehr allein.
Ich erinnere mich aber, dass ich vor jeder späteren Begegnung Qualen litt. Was sollte ich tun, falls er wieder übergriffig würde? Ich war zerrissen zwischen Ekel, Abwehr, Wut und, ja, auch naivem Stolz: ich redete mir ein, dieser berühmte Schriftsteller und Gelehrte findet Gefallen an dir. Das schmeichelte mir.
Heute fasse ich mich an den Kopf: ich war jung und hübsch, er war nichts weiter als ein geiler alter Mann, der meine Verehrung schamlos ausgenutzt hat.
Ich habe seine handschriftlichen Briefe alle aufgehoben. In einem hat er sich verschlüsselt noch einmal bedankt für mein „Entgegenkommen“.
Als er dann wenige Jahre später gestorben ist, habe ich eine Art Erleichterung gespürt. Als ob mit seinem Tod auch dieses für mich so beschämende Erlebnis aus der Welt geschafft wäre.
So ist es aber nicht. Die Erinnerung daran belastet mich. Ich hadere mit mir selbst: warum habe ich dieses Spiel mitgespielt? Warum habe ich meine Empörung unterdrückt? Warum habe ich mich selbst so erniedrigt?
Es gibt dafür Erklärungen, aber keine Entschuldigung.
Ich kann jedenfalls nachvollziehen, warum die Frauen, die von Weinstein und Co. missbraucht wurden, niemandem etwas davon sagten. Es ist die Scham.
Ich freue mich über Eure Meinung!