Eine hohe rote Backsteinmauer umgibt das denkmalgeschützte Gelände, auf dem seit mehr als 70 Jahren niemand mehr beerdigt wurde. Heute ist der stillgelegte Friedhof ein Treffpunkt für Menschen aus dem Viertel, die den mit hohen Laubbäumen bestandenen Park als eine Art Gartenersatz nutzen.
Da sind die Sportler, vor allem die Jogger, die morgens und abends ihre Bahn entlang der Umfassungsmauer ziehen. Eine Runde ist etwa 750 Meter lang, wie jemand mal errechnet hat – das erleichtert das Abschätzen, nach wievielen Runden das tägliche Soll erfüllt ist.
Man kann hier aber auch Menschen sehen, die eher exotischen Sportarten wie Tai Chi frönen oder mit langen Holzstäben geschmeidig umhertänzeln. Ein junger Mann pflegt regelmäßig mit beschwörend ausgestreckten Händen immer denselben Baum zu umrunden. Das wirkt sehr schamanisch, und wer das nicht mal beobachtet hat, wundert sich bestimmt über die merkwürdigen Spuren im Gras, die an die geheimnisvollen Kornkreise denken lässt, die seit Hunderten von Jahren Rätsel aufgeben.
Das Leben von damals vermischt sich mit dem von morgen
Tagsüber schieben bei schönem Wetter stolze Großeltern oder junge Mütter Kinderwagen über die Sandwege, die den Park in gleichmäßige Rechtecke zerschneiden. Auf den Bänken sitzen Rentner, Liebespaare oder Studenten, die sich mit dem Marker in der Hand durch Papierstöße arbeiten. Oft sieht man auch Leute, die im Schatten der Bäume in ein Buch vertieft sind – ein eher ungewohnter Anblick in einer Zeit, in der die meisten Menschen nur noch auf ihre Handys oder Tablets starren. Ich habe auch schon erlebt, dass jemand, hin- und herlaufend, mit großer Emphase einen Text deklamiert hat.
Im Sommer breiten die Leute auf dem Gras zwischen den verwitterten Grabsteinen Decken aus und sonnen sich, lesen, hören Musik oder plaudern. Manchmal wird auch ein Kindergeburtstag gefeiert. Dann hängen bunte Luftballons zwischen den Bäumen und die Kinder spielen zwischen den Gräbern Fangen und Verstecken.
Ich liebe diesen Friedhof. Er ist eine Oase mitten in der Stadt. Der Straßenlärm wird durch die Umfassungsmauern gedämpft, man hört Vögel zwitschern und Kinder lachen. Niemand hat es hier eilig, sogar die Jogger drehen entspannt ihre Runden, oft in Grüppchen, die sich beim Laufen angeregt unterhalten.
Selbst bei Regen hat der Park seinen Reiz. Dann erinnert er am ehesten an den Friedhof, der er ja immer noch ist. Es ist ganz still. Kein Lachen und Rufen. Die Statuen sehen traurig aus, manche scheinen zu weinen. Der Regen rauscht in den Blättern, auf den Wegen bilden sich große Pfützen. Alles wirkt sehr melancholisch. Ich gehe dann gern von Grabmal zu Grabmal, lese die Inschriften und stelle mir vor, wie die hier ruhenden Toten wohl gelebt haben.
Die Gräber zeigen einen Querschnitt durch die Bevölkerung, die zwischen 1866, als der Friedhof erbaut, und 1944, als er stillgelegt wurde, hier gelebt hat und gestorben ist. Da ist eine Bäckermeistersgattin bestattet, dort hat eine Familie drei kleine Kinder begraben müssen, die kaum älter als ein Jahr geworden sind. Dann gibt es das Grab des Schlachtenmalers und das des Hofkapellmeisters, außerdem ruhen hier ein Oberleutnant a.D., der auch als Münchner Original bekannt war, und einige offenbar verdienstvolle Professoren, die an der naheliegenden Uni gelehrt und geforscht haben. Auch das Grabmal des Grafen von Montgelas ist in die Friedhofsmauer eingelassen, ebenso wie das des U-Boot-Erfinders Wilhelm Bauer, auf dessen Stein ein rudimentäres U-Boot eingeritzt ist.
Viele Namen, die in Münchner Straßenbenennungen wiederkehren, sind hier zu lesen. Eins der bekanntesten Grabmale ist das des Bildhauers Michael Wagmüller. Er hat den Sarkophag mit dem Todesengel, der liebevoll ein kleines Kind umfängt, für seine beiden früh gestorbenen Töchterchen geschaffen und ist selbst dort begraben. Das Grabdenkmal ist bei der Weltausstellung 1878 in Paris gezeigt und mit dem Orden der Französischen Ehrenlegion ausgezeichnet worden.
Der Alte Nordfriedhof bietet also neben seiner heutigen Nutzung als „Freizeitpark“ jede Menge Anregung, in die Geschichte der Stadt München einzutauchen. Was mir aber am besten gefällt, ist dieses so selbstverständliche Nebeneinander von Tod und Leben. Ich könnte mir vorstellen, dass die hier begrabenen Toten gegen das fröhliche Treiben da oben nichts einzuwenden haben.
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Andreas schreibt
Liebe Ulrike,
als Ergänzung Deiner stimmungsvollen Betrachtungen sei noch angemerkt, dass da des öfteren, vor allem im Spätwinter, kleine Grüppchen von Leuten mehr herumstehend als -gehend interessiert mit Ferngläsern in die Wipfel der Bäume spähen, zwischen die Grabsteine oder in die Büsche; dabei sperren sie angestrengt die Ohren auf. Die Friedhöfe sind nämlich auch prima Biotope, Oasen inmitten der städtischen Betonwüsten, wo man eine Menge Vögel beobachten und hören kann. Eva Schneider, eine rührige und sehr kompetente Ornithologin, bietet öfters Vogelstimmen-Exkursionen an, u.a. auch eben auf dem Alten Nordfriedhof, und da bin ich auch gern und oft dabei. Vielleicht sehen wir uns bei der Gelegenheit ja mal 😉
Andreas
Ulrike schreibt
Lieber Andreas, vielen Dank für diese interessante Info. Das wusste ich tatsächlich nicht … woran erkenne ich Dich, wenn Du mal da bist?
Andreas schreibt
…na, Deinen Sozusagenexschwiegersohn Andi wirst Du schon noch erkennen, auch wenn wir uns jetzt lange nicht mehr gesehen haben ????
Ulrike schreibt
Ach Du bist das! Na, Dich erkenne ich bestimmt wieder! Freut mich sehr …
Anne schreibt
Ich hab noch was gefunden, was leider gerade saisonbedingt vorbei ist, aber für’s Frühjahr steht das unbedingt auf der Agenda: eine Wildkräuterführung auf dem Alten Nordfriedhof! https://www.facebook.com/events/1708340842512411/
Ulrike schreibt
Gut zu wissen! Super, was dieser alte Friedhof so alles hergibt …